Geplant




Leseprobe:

Robinson Crusoe im All



Prolog

Vorbei an hunderttausend Sonnen,
in meinem Raumschiff reise ich schneller als das Licht.
Ich lebe in der Zukunft, und die Gegenwart ist nur
ein Traum.
In den riesigen Leerräumen des Universums nutze ich
die Gelegenheit.
Unterwegs im Sternennebel der Milchstraße hantiere ich
mit Buchstaben.
Ich suche nach Worten, forme Sätze, bis an der Geschichte meiner Reise nichts mehr zu verbessern ist.
Erschöpft und müde schlafe ich ein und nehme den Tunnel durch die Zeit.
Angekommen, wache ich auf!




Erste Abenteuer

Elternhaus
Ich wurde geboren in York, im Jahre 2353. Mein Vater kam nicht aus der Gegend. Kaum jemand stammte noch aus einer Gegend. Er wuchs auf in Bremen, hatte in Hull studiert und betrieb dort eine Beratungsfirma für Software-Anwendungsfragen. Nach dem Verkauf seiner Firma zog er nach York. Hier heiratete er meine Mutter. Eine in Politik und Industrie bestens vernetzte Frau, eine Robinson. Um dem sperrig-deutschen Namen K∙r∙e∙u∙t∙z∙n∙a∙e∙r in der englischen Sprache eine gewinnende Leichtigkeit zu geben, hatte er sich kurzerhand umbenannt. Daher also mein Name: Robinson Crusoe.

Ich hatte zwei ältere Brüder. Der eine arbeitete, gegen den Willen meines Vaters, als Joint Operation Manager bei der Nachfolgeorganisation der UNO. Bei einem Stabilisierungseinsatz in Skandinavien, gleich bei seiner ersten Mission, wurde er verwundet und starb. Mein anderer Bruder ist spurlos verschwunden. Er verließ das Haus und hat nie mehr ein Lebenszeichen von sich gegeben.

Weil mein Vater den Kontakt zu seinen ersten beiden Söhnen verloren hatte, lag seine Aufmerksamkeit jetzt auf mir. Die unfertigen und unausgegorenen Gedanken in meinem Kopf hielt er für bedenklich. Für ihn war ich unfähig, ein überlegtes und erfolgreiches Leben zu führen. Das traute er mir nicht zu. Die fälligen Interventionen überließ er den dafür qualifizierten Stellen.

Er akzeptierte seine Übersiedlung in die Seniorenresidenz ohne Gegenwehr. Niemandem zur Last fallen, das war ihm wichtig. Gleichzeitig kündigte er aber an, dass er nicht die Absicht habe, sich geräuschlos aus der Welt zurückzuziehen. Was um ihn herum passiere, werde er laut und deutlich kommentieren. Viel zu oft habe er geschwiegen. In Erziehungsfragen habe er seine Verantwortung allzu bereitwillig an die Institutionen abgegeben. Er müsse sich diesen Vorwurf machen. »Ich bedaure es, die eigenen Kinder nicht glücklich zu sehen! Es kann doch nicht falsch sein, sich zu sorgen!« Für den Rest seines Lebens bestand er darauf, altmodisch zu sein.

Bei meinen sporadischen Besuchen liefen die Gespräche immer auf das eine Thema hinaus, auf die ausführliche Version seiner Lebensweisheit, der Philosophie der Mitte. Es drängte ihn, die Erfahrungen und die Essenz seines Lebens an andere weiterzugeben. »An wen sonst, wenn nicht an dich?« Deshalb müsse ich mir das anhören. Es sei dann meine Sache, was ich damit anfinge. Bei seinen weitschweifigen Exkursen kam er immer wieder zum Kern seines Anliegens zurück:
»In meinem Leben hat es nie für möglich gehaltene Umwälzungen gegeben. Überbevölkerung, Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung und Klimawandel – die Probleme sind gelöst. Durch die gravierende Steigerung der Wirtschaftsleistung wurde ein ungeahnter Wohlstand möglich. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist ein fundamentales Gesetz durchbrochen worden: Eine Gesellschaft, die maximal gut leben will, die muss auch maximal viel leisten – und zwar jeder! Diese Regel gilt nicht mehr! Nicht jeder, der arbeiten will, der wird auch gebraucht. Es steht jedem das Recht zu auf Nichtstun und Müßiggang. Mehr noch: Wer auf Arbeit freiwillig verzichtet, dem wird ein bedingungsloses Grundeinkommen gezahlt. Ein Goldenes Zeitalter! In früheren Zeiten nie mehr als ein Almosen, garantiert es heute einen nie gekannten Lebensstandard, Mittelstand eben. Darum habe ich mich früh aus dem aktiven Erwerbsleben zurückgezogen. Ich kann ganz gut leben ohne Planungskonferenzen, Strategiediskussionen und ähnliche Arbeitsexzesse. Das Weltall bewegt sich auch ohne Workaholics. Chronisch krankhafter Ehrgeiz, Midlife-Crisis und Burn-out, an solchen "Persönlichkeitsstörungen" leide ich nicht. Ich habe ein fast schon kontemplatives Leben geführt. In meinem Bekanntenkreis wird das als "Mittelmäßigkeit" verspottet. Das nehme ich gerne hin. Meine Golfurlaube zwei-, dreimal im Jahr auf der Halbinsel Kamtschatka, mein Lebensabend in einer wundervoll komfortablen Wohnanlage, mehr brauche ich nicht. Was denn noch? Ich genieße die Freuden des Mittelstandes, in aller Ruhe und Gelassenheit. Die Mitte, das bedeutet für mich Mäßigung, Ausgleich und Nachhaltigkeit.«

Ich versuchte nie, meinen Vater mit Zwischenfragen und Gegenargumenten zu stoppen. In den Pausen, die er setzte, sah er mich an. Kleine, kurze Vergewisserungen, ob ich sein Anliegen auch mit der angemessenen Ernsthaftigkeit zur Kenntnis nähme. Seinen Blicken hielt ich stand. Einwände und Bedenken hatte ich nicht. Es war ja so, dass die Gespräche, die ich mit ihm führte, bei mir nicht ohne Wirkung blieben. Seine Argumente leuchteten mir durchaus ein. Aber sobald ich sein Lebensabend-Areal verlassen hatte, dann sah ich die Dinge wieder aus meiner Perspektive. Objektiv gesehen lagen wir sicher nicht so weit auseinander. Statt mich auf die Werte der "Mittelmäßigkeit" einzulassen, ging ich meinen eigenen Weg. Das Recht nahm ich mir heraus. Für ihn war es schwer zu ertragen, wenn die eigenen Kinder unbeirrt darauf bestanden, Fehler zu begehen. Zum Schluss sah ich Tränen in seinen Augen. Die durchschnittliche Lebenserwartung hatte er weit überschritten, auf weitere lebensverlängernde Forschungsergebnisse in der Medizin durfte er nicht mehr hoffen. An diesem Tag verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung. Seine Ratschläge habe ich nie versucht, eins zu eins umzusetzen. Im Nachhinein tut es mir ausgesprochen leid, dass ich ihn enttäuschen musste und ihn auch über mein Schicksal im Unklaren gelassen habe, bis zu seinem Tod. Was wir in diesem Moment beide nicht ahnten: Wir sahen uns zum letzten Mal!



Schule
Meine Schulzeit in York beendete ich mit der Reifeprüfung. Das Abgangszeugnis wurde mir auf einer der üblichen Abschlussfeiern überreicht. Die Veranstaltungen damals hatten eine ganz eigene Atmosphäre, weil immer noch das Bedürfnis bestand, dem "Schritt ins Leben" einen angemessenen Rahmen zu geben. Bei solchen Anlässen gehörte es ganz einfach dazu, nachdenkliche Töne anzuschlagen, das Geleistete noch einmal Revue passieren zu lassen, den Blick nach vorne zu richten und sich auf die fundamentalen Fragen des Seins zu besinnen. Zentraler Bestandteil, auch bei meiner Feier, war die Abschlussrede, für alle Bildungsbereiche einheitlich vorgeschrieben. Damals zum Thema: Unsere Zukunft! – oder: Die Bedingungen des Glücks. Das Glück sei ein universeller Zustand. Darauf habe sich die Gemeinschaft der Menschen geeinigt. Diese Gipfelspitze der Gefühle sei letztlich immer das Ziel. Das Streben nach Glück sei ein festgeschriebenes Freiheitsrecht. Frei von materiellen Zwängen, wären wir Menschen fast schon in das Paradies hineingeboren. Die Generationen vor uns hätten dafür den Grundstein gelegt. Aber jeder solle sich davor hüten, eine bequeme Anspruchshaltung einzunehmen. Denn es bliebe immer noch ein entscheidender Rest. Jeder ist seines Glückes Schmied! Richtig verstanden, gelte das alte Sprichwort immer noch. Für den entscheidenden Kick, für den geglückten Absprung ins Leben, dafür trage jeder seinen Teil der Verantwortung mit. Hier keine unverbindliche Aufforderung wie in Sonntagsreden, sondern der Aufruf, dafür auch wirklich alles zu tun. Schwer abzuschätzen, inwieweit die Botschaft auf fruchtbaren Boden fiel. Der unvermeidliche Schülerulk missglückte. Kein einziges der Worte, die in die Mikrofone hineingesprochen wurden, kam verdreht und sinnentstellt über die Lautsprecher. Erleichterung. Allgemeiner Aufbruch. Es wurde auf die jährlich stattfindenden Beratungsgespräche hingewiesen.

Für mich war es eine ausgemachte Sache, das Gesprächsangebot anzunehmen. Mit einem so enorm hohen Andrang hatte ich allerdings nicht gerechnet. Schließlich gelang es mir, einen der begehrten Gesprächstermine zu ergattern. Also fuhr ich nach Hull. Der Mann vom Beratungsdienst gab sich aufgeschlossen und war freundlich. Die Nachfrage nach Studienplätzen sei – wie jedes Jahr – hoch, was für das Potenzial der heutigen Jugend spräche. Für ihn doch auch wieder unverständlich, der Run auf die Hochschulplätze. Hier kippe seine grundsätzlich positive Einstellung. Mit akademischen Graden schmücke sich doch jeder gerne. Wie ich mir das denn vorstelle, so ein Leben mit Zielvereinbarungen und Leistungsvorgaben? Stattdessen könne ich mein Dasein auch genießen, jeden Tag. Bei der Höhe des bedingungslosen Grundeinkommens, das man heute zahle, sei das Leben doch nicht weniger attraktiv. Auch er zweifle gelegentlich an der Entscheidung, die er für sich getroffen habe. Warum ausgerechnet Angewandte Kybernetik? Gerade in dem Fach sei der Andrang überdurchschnittlich hoch. Auf mein Bedürfnis, etwas von Bedeutung und Relevanz zu tun, darauf ging er nicht ein. »Es ist ja nun mal so, dass der Personalbedarf für die Wohlstandsproduktion zusehends schwindet. Bei denen, die aktiv in die Wirtschaftsprozesse eingespannt sind, handelt es sich um eine Auswahl der Besten, um Spezialisten, um die Elite sozusagen. Herr Crusoe, Ihre Voraussetzungen reichen einfach nicht aus! Es braucht Fähigkeiten, die sie nicht haben. Nicht ich sage das, sondern die Algorithmen. Ich kann das nur so weitergeben. – Es tut mir leid! – Ausgeschlossen! – Keine Chance!«

Damit war das Urteil über mich gesprochen. Tief getroffen saß ich auf der Ufermauer an der Mündung des Humber, beschäftigt mit der Reparatur meines angeschlagenen Selbstbewusstseins. Hinter mir das The Deep, ein für Verwaltungszwecke umgebautes ehemaliges Meerwasseraquarium. Ein Bau mit zeitlos futuristischem Aussehen, geformt wie ein Schiff, das in See sticht – nur nicht mit mir. Kaum, dass ich da saß, verließ der nächste abgelehnte Bewerber das historische Gebäude. Bei ihm jedoch von Resignation keine Spur. Plan A funktionierte nicht, also zog er Plan B aus der Tasche. »Selber schuld, wenn die nicht erkennen, was in mir steckt! – Jetzt erst recht!« Er besteige nicht irgendein Schiff, in London warte sein Schiff auf ihn. Die Kreativ-Schiff-Bewegung habe sich vor vielen Jahren aus der Tradition der Backpacker, der digitalen Arbeitsnomaden und der Clickworker heraus entwickelt. Mit null Bock auf einen Nine-to-five-Job, ungebunden und unabhängig auf Weltreise gehen, nach eigenen Regeln leben, jeden Tag, an traumhaft schönen Orten. Bei Bedarf den Laptop aus dem Rucksack ziehen und Geld für die Weiterreise verdienen, vorausgesetzt, die Bambushütte hatte Internet. Dieser Geist lebe immer noch und setze sich weiter fort, nur in einem sehr viel größeren Rahmen. – »Komm doch mit!« – Sofort war ich begeistert von der Idee. Ohne mir im Klaren darüber zu sein, auf was ich mich einließ, und ohne über meine spontane Reiselust auch nur eine einzige Nachricht zu hinterlassen, ließ ich mich mitreißen. Niemand sollte die Chance haben, mich umzustimmen. Ich ließ alles hinter mir und machte mich ebenfalls auf.



Die Kreativ-Schiff-Bewegung
Am 1. Januar des Jahres 2371 ging ich an Bord der Harmony of the Seas, dem originalgetreuen Nachbau eines gleichnamigen und einmal weltgrößten Kreuzfahrtschiffes. 360 Meter lang, 16 Decks, 6780 Passagiere, mit liebevoll rekonstruierten Aufbauten und mit, dem neuen Verwendungszweck entsprechend, optimal ausgestatteten Kabinen. Das Angebot der Kreativ-Schiff LTD: Ein unvergleichlicher Ort zum Arbeiten, zum Relaxen und Ausspannen, für Aussteiger und Nonkonformisten, mit üppig vorhandenen Freizeiteinrichtungen, kurzweiligen Schiffspassagen über die Weltmeere und attraktiven Liegezeiten an Top-Destinationen. Auch ein starkes Argument: Keine Zugangsbeschränkung! Jeder darf mit! Kostenlose Buchung! All-inclusive Service! Keine versteckten Gebühren! Tatsächlich waren auch fast alle der 2747 angebotenen Co-Working-Spaces ausgebucht.

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